Die verwirrende Vielfalt von Zielgruppen für Einfache und Leichte Sprache
Wen sollen leicht verständliche Bücher, Geschichten und Infobroschüren erreichen? Welche Leserschaft haben die Autoren oder Übersetzer dieser Texte im Blick? Das Zauberwort dafür sind Zielgruppen. In der Fachliteratur für Einfache und Leichte Sprache werden zahlreiche Zielgruppen ausführlich erläutert und benannt. An diese Bezeichnungen knüpfen auch viele Textbüros und andere Anbieter leicht verständlicher Sprache an. Doch im praktischen Angebot von Texten sind die Zielgruppen oft umschrieben, verhüllt oder gar nicht ausgewiesen. Woher rührt dieser freizügige Umgang mit Zielgruppen?
Zielgruppen im Überblick
Betrachten wir zunächst die vielfältigen Zielgruppen in der Fachliteratur zur Einfachen und Leichten Sprache (siehe Veröffentlichungen). Aus den verschiedenen Darstellungen lassen sich vier Hauptgruppen mit jeweiligen Unterbezeichnungen oder Teilgruppen herausfiltern. Sie alle gelten, wenngleich unterschiedlich gewichtet, für Einfache und Leichte Sprache gemeinsam:
Zielgruppen für Einfache und Leichte Sprache
Menschen mit geistiger Behinderung
(mit Lernschwierigkeiten)
(mit kognitiven Einschränkungen)
Menschen mit besonderen Beeinträchtungen
Demenz
Hör-/Sehschädigungen
Sprachstörungen
Menschen mit geringer Lesefähigkeit
funktionale Analphabeten
Menschen mit geringer Bildung
Menschen mit geringer Fachkompetenz
Ältere Menschen
Jugendliche
Menschen mit anderer Muttersprache
Geflüchtete/ Migranten
Wie unterscheiden sich nun Einfache und Leichte Sprache hinsichtlich ihrer Zielgruppen? Sehen wir uns dazu genauer an, wie Anbieter und Angebote ihre Zielgruppen jeweils ausweisen.
Zielgruppen der Anbieter
Die Zielgruppen der Anbieter (Textbüros, Herausgeber und Agenturen) finden wir meist in deren Internetauftritten. In der ersten Grafik sind die Angaben von 25 Anbietern den oben aufgelisteten Zielgruppen zugeordnet.
Die Grafik zeigt zwar, wie zu erwarten, eine unterschiedliche Gewichtung der Zielgruppen: Leichte Sprache mehr für Menschen mit geistiger Behinderung, Einfache Sprache mehr für Menschen mit geringer Lesefähigkeit und für ‚alle‘ Leser. Doch deutlich wird auch, dass die Anbieter sowohl für Einfache als auch für Leichte Sprache die gesamte Palette von Zielgruppen berücksichtigen. Dabei fällt auf, welch großen Raum die Menschen mit anderer Muttersprache (Geflüchtete/ Migranten) in Einfacher wie auch Leichter Sprache einnehmen.
Anbieter weisen darauf hin, dass sie Einfache bzw. Leichte Sprache je nach Zielgruppe auswählen, ihre Texte auf die Zielgruppe ausrichten oder die Sprache individuell anpassen. Wir erfahren allerdings wenig über die speziellen Anforderungen für einzelne Zielgruppen. Erwähnt werden ältere Menschen, die vor allem größere Schrift brauchen und Fachwörter des modernen Lebens verstehen wollen, und Migranten, denen viele Begriffe mit deutschem Hintergrund unverständlich sind.
Zielgruppen der Angebote
Sehen wir nun, für welche Zielgruppen die tatsächlichen Angebote an leicht verständlichen Texten (Infobroschüren, Infoseiten und Nachrichten im Internet) bestimmt sind. In der Sammlung Infos für alle haben wir 70 Angebote geprüft: 42 von Ihnen weisen Zielgruppen aus; sie ergeben folgendes Bild:
Bei den Angeboten ist – ebenso wie bei den Anbietern weiter oben – jeweils die gesamte Palette an Zielgruppen vertreten. Allerdings sind Texte für Menschen mit geistiger Behinderung mehr in Leichter Sprache zu finden, während Texte für Menschen mit anderer Muttersprache mehr in Einfacher Sprache vorliegen (meist mit entsprechenden Niveaustufen).
Auffällig ist schließlich, wie viele Angebote in beiden Sprachvarianten für ‚alle Menschen‘ ausgewiesen sind. Außerdem richten sich viele Angebote an mehrere Zielgruppen gleichzeitig. Diese Texte für ‚alle Menschen‘ bzw. ‚mehrere Zielgruppen‘ (insgesamt 50% der Angebote in der Grafik) können kaum spezielle Bedürfnisse von Zielgruppen berücksichtigen. Eher soll wohl eine möglichst große Leserschaft geworben werden.
Zielgruppen im Wortlaut
Aufschlussreich ist, wie die Zielgruppen der Angebote im einzelnen bezeichnet werden. Nur wenige sind mit den Fachbegriffen (wie in der Übersicht ganz oben) identisch, viele sind anders formuliert, und manche lassen sich kaum richtig zuordnen. Warum ist das so?
Leicht verständliche Texte sollen Menschen erreichen, die die Standardsprache oder gar Fachsprache nur schwer verstehen können. Diese Menschen haben aber nicht nur ein Sprachproblem: zugleich leiden sie unter der Geringschätzung in ihrem Umfeld, die sich auch in abwertenden Bezeichnungen ausdrückt. Um so wichtiger ist eine geschickte und politisch korrekte Wortwahl bei den Zielgruppen!
Am deutlichsten ist das bei Menschen mit geistiger Behinderung. Ihr Verband „Mensch zuerst“ lehnt die Bezeichnung ‚geistig behindert‘ ab: „Wir wollen ‚Menschen mit Lernschwierigkeiten‘ genannt werden!“, steht auf ihrer Internetseite. Dieser Begriff wird daher oft für diese Zielgruppe verwendet, neben der eher abgehobenen Bezeichnung „Menschen mit kognitiven Einschränkungen“.
Aber auch Menschen, die als funktionale Analphabeten gelten, weil sie nur unzureichend lesen und schreiben können, werden in unserer bildungsbeflissenen Gesellschaft abfällig behandelt. Sie möchten eher unerkannt bleiben, als gezielt angesprochen werden. Oft werden sie daher zusammen mit anderen Problemgruppen als ‚Menschen mit geringer Lesefähigkeit‘ bezeichnet.
Mehr Verständnis hingegen können ältere Menschen mit besonderen Leseschwierigkeiten und auch Migranten mit geringen Deutschkenntnissen erwarten. Aber auch diese beiden Gruppen wollen sich nicht bloßstellen und brauchen Zuspruch.
Viele Herausgeber von leicht lesbaren Infotexten oder Nachrichten bemühen sich daher, Ihre Zielgruppen ansprechend zu bezeichnen. Hier sind einige Beispiele (Bezeichnungen kursiv):
- Angebote für Kundinnen und Kunden, für Patienten, für Vorgesetzte, Sicherheitsbeauftragte und Beschäftigte: hier fehlt jeglicher Bezug zur Lesefähigkeit;
- Angebote für Menschen, die gerade erst die deutsche Sprache lernen/ die nicht so gut Deutsch sprechen: die Einschübe ‚gerade erst‘ und ’nicht so gut‘ wirken abmildernd und lassen die Mängel offen;
- Angebote für ältere Menschen, die mit den Fachausdrücken der modernen Welt nicht vertraut sind /die sich nicht mehr so gut konzentrieren können: diese Formulierungen sind konkret und zugleich einfühlsam;
- Angebote für Menschen, die schwierige Sprache nicht gut verstehen können/ die sich nicht ausreichend sprachlich verständigen können/ die über eine geringe Kompetenz der deutschen Sprache verfügen: diese Umschreibungen umfassen gleich mehrere Zielgruppen und sprechen eine große Leserschaft an;
- Angebote für Menschen, die nicht so schnell Neues lernen können; erwachsene Menschen, die gerne Texte in Alltagssprache lesen; Familien, die der deutschen Sprache (noch) nicht ganz so mächtig sind: hier werden die Bedürfnisse einzelner Zielgruppen (mit geistiger Behinderung, mit geringer Lesefähigkeit und mit anderer Muttersprache) besonders rücksichtsvoll verhüllt.
Angebote ohne Zielgruppen
Wer aber soll sich angesprochen fühlen, wenn eine Broschüre oder Internetseite überhaupt keine Zielgruppe nennt? Das trifft für 28 der untersuchten 70 Angebote zu. Es gilt außerdem für viele der übrigen Infotexte oder Nachrichten, bei denen die Zielgruppen erst im Abspann oder unter zusätzlichen Erläuterungen zu finden sind. In all diesen Fällen sind Leser auf indirekte Signale angewiesen, zum Beispiel Logos, Label und Siegel für Leichte Sprache, Leichtes Lesen oder Einfache Sprache. Ohnehin werden viele Leser anhand der Titelseite, Bilder und Schriftgestaltung beurteilen, ob ihnen die Lektüre zusagt.
Fazit
Groß ist die Vielfalt an Zielgruppen für leicht verständliche Texte. Das betrifft Angebote in Leichter wie auch in Einfacher Sprache. Beide richten sich nicht nur an ihre typischen Zielgruppen (Menschen mit geistiger Behinderung/ Menschen mit geringer Lesefähigkeit), sondern recht häufig an Menschen mit anderer Muttersprache und an alle Interessenten. Dabei werden die Zielgruppen oft umschrieben, um gesellschaftliche Vorbehalte zu meiden und eine breite Leserschaft anzusprechen. Bei vielen Angeboten sind jedoch die Zielgruppen schwer auffindbar oder gar nicht ausgewiesen. Stattdessen deuten Logos, Label und Siegel zumindest auf das Sprachniveau. Die Leser, die eigentlich gezielt erreicht werden sollen, müssen also oft selbst herausfinden, was zu ihnen passt!
Sabine Manning
Danke für einen weiteren nicht nur sehr informativen, sondern auch leicht zugänglichen Text! Letztlich sind wir alle dankbar, wenn wir einen Text einfach (so, mit einer Tasse Kaffee in der Hand) lesen können, stimmt’s?
Herzliche Grüße
Christine Pilot
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Das freut mich – vielen Dank, Christine! Dabei ist mein Text noch gar nicht mal Einfache Sprache. Doch „einfach so, mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu lesen“ ist ein gutes Kriterium für das, was wir erreichen wollen.
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Ich finde das einen interessanten Artikel, der mich nachdenklich macht. … weil einerseits eine direkte Benennung adressierend ist und beispielsweise potenziell abwertend einen besonderen Unterstützungsbedarf zuschreibt und andererseits die Benennung einer Zielgruppe auch Beteiligungsmöglichkeiten bieten kann. Es ist ein unauflösliches Dilemma und der Artikel zeigt, dass Umschreibung und „Sprachlosigkeit“ bisher die Lösung ist. Vielleicht liegt das an der allgemeinen gesellschaftlichen Vermeidung von explizitem Sprechen über Differenz. Hast du eine persönliche Meinung zu dem Thema?
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Vielen Dank, Dorothee, für dein anregendes Nachdenken!
Ich kann das Dilemma auch nicht auflösen, doch ich wäre für mehr Offenheit:
Die Zielgruppen, die wir mit den Texten erreichen wollen, sollten klar angesprochen werden.
Dazu müssen wir ja nicht die Zielgruppen ‚an sich‘ bezeichnen; viel mehr können wir die konkreten Schwierigkeiten benennen, die der Text berücksichtigt (also „für Leserinnen und Leser, die …“). Dafür gibt es schon gute Beispiele.
Und hilfreich wäre es gewiss, von den Zielgruppen selbst zu erfahren, was sie anspricht. Hierzu könntest du bestimmt aus deiner Zusammenarbeit Interessantes ermitteln!
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