Mehrsprachig im Kommen

Zweisprachig aufwachsen – das ist heutzutage ein erstrebenswertes Ziel bildungsbewusster Eltern für ihre Kinder. Am besten sollten sie gleich eine zweisprachige Kita und später ein Gymnasium mit mehreren Sprachen besuchen. Bei alledem wird natürlich die perfekte deutsche Muttersprache als selbstverständlich vorausgesetzt. Doch wie steht es mit Kindern, die aus anderen Ländern geflohen oder zugewandert sind? Kommt es nur darauf an, deren Mangel an Deutsch recht bald zu beheben? Haben sie sprachlich nicht mehr zu bieten?

Girl von Gerd Altmann auf Pixabay

Migrantenkinder kommen mit vielfältigen Herkunftssprachen zu uns – je nach Alter und Bildung auf ganz unterschiedlichem Niveau. Viele von ihnen sprechen selbst zwei oder mehr Sprachen. Bekannt ist das u.a. von der Bevölkerung auf dem Balkan. Im Kosovo etwa unterhielten sich Romakinder  zu Hause auf Romanes, mit den Nachbarskindern auf Serbisch und Türkisch, und in der Schule benutzten sie Albanisch oder Russisch (1). Aber auch die Lebenswege der Migrantenkinder hinterlassen sprachliche Spuren, wie z.B. bei Jamil (16 Jahre) aus dem kurdischen Teil Syriens: Er kannte das lateinische Alphabet schon gut, weil er Kurdisch spricht, und auch vom Englischunterricht in Syrien; er spricht aber auch Arabisch, und Türkisch hat er bei seinem einjährigen Aufenthalt in der Türkei gelernt (2).

Es gibt reichlich Forschung und Disput über Zwei- oder Mehrsprachigkeit. Lange Zeit wurde sie als mögliches Hemmnis für die sprachliche Entwicklung angesehen. Besonders konnte sich diese Auffassung in Deutschland halten, da hier die eigene ‚reine‘ Sprache als nationales Kulturgut gepflegt wird. Inzwischen aber findet ein Umdenken statt: Viele Studien haben belegt, dass der Mensch von sich aus kein einsprachiges, sondern ein mehrsprachiges Wesen ist, und dass Mehrsprachigkeit für die geistige Entwicklung vorteilhaft ist. Auch in der Öffentlichkeit wird sie zunehmend als Chance begriffen (3).

Im Lichte dieser Erkenntnisse haben führende Pädagogen wie Prof. Ingrid Gogolin angeregt, Migrantenkinder hinsichtlich ihrer Mehrsprachigkeit bewusst zu fördern. Viele gute Gründe lassen sich dafür anführen:

A.  Muttersprachen sind identitätsstiftend. Sie übermitteln Kultur, Mimik, Gestik und Gefühle. Wenn Kinder spüren, dass ihre Sprache und Kultur wenig wertgeschätzt wird, fühlen sie sich insgesamt abgewertet. Umgekehrt gewinnen sie an Selbstvertrauen, wenn sie ihre Sprache und ihr Wissen einbringen können. In Kitas z.B. bietet es sich an, Migrantenkinder zu fragen, wie sie bestimmte Dinge zu Hause nennen. Das regt auch die anderen Kinder an, über unterschiedliche Wörter und Sprachen nachzudenken (vgl. 4).

B. Erstsprachen bilden die Basis für den Erwerb weiterer Sprachen wie Deutsch. Um jedoch eine sinnvolle Mehrsprachigkeit zu erreichen, müssen Kinder auch in der Erstsprache lesen und schreiben können (5). Je höher das Niveau in der Erstsprache, umso besser erlernen Kinder weitere Sprachen. Erstrebenswert ist eine ‚durchgängige‘ Sprachbildung, die sich über die Bildungsphasen eines Kindes und über beteiligte Fächer hinweg erstreckt (6).

C. Kinder, die im Alltag mit mehreren Sprachen jonglieren müssen, entwickeln nicht nur kommunikative Vorteile; sie lernen auch, sich zu konzentrieren, Konflikte zu lösen und sich besser in andere hineinzuversetzen. All das fördert ihre geistige Entwicklung; ihr Gehirn wird flexibler (7).

D. Herkunftssprachen sind als besondere Kompetenz für das spätere Arbeitsleben wertvoll (8). Dazu aber ist eine gezielte Sprachförderung nötig, denn berufliche Qualifikation oder Studium erfordern ein bildungssprachliches Niveau.

E. Die eigene Sprache zu erhalten ist wichtig, um soziale Beziehungen mit den Familien vor Ort und im Herkunftsland zu pflegen (vgl. 5). Über die Sprache werden auch Werte, Traditionen und Verhaltensregeln vermittelt, so dass zweisprachig aufwachsende Kinder lernen, mit verschiedenen Kulturen umzugehen. Als Zweisprachige werden Migrantenkinder später Brücken bauen können (9).

Mit viel Engagement versuchen etliche Lehrkräfte und Erzieherinnen, die Herkunftssprachen von Kindern und Jugendlichen in den Lernprozess einzubeziehen. Auch einige Modellversuche wurden aufgelegt. Woran es jedoch noch hapert sind verbindliche politische Konzepte und Regelungen. In dem bundesweiten Programm „Integration durch Bildung“ (2016) wird der Begriff ‚mehrsprachig‘ nicht einmal erwähnt (vgl. 6).

Allerdings gibt es auf Länderebene hilfreiche Vorstöße. Das sächsische Integrationskonzept (v. 2000) z.B. erkennt die Zwei- und Mehrsprachigkeit als Bildungsresource an und sieht einen entsprechenden Unterricht in 15 Sprachen vor (10). In Hamburg gibt es ebenfalls gut durchdachte Rahmenpläne für den herkunftssprachlichen Unterricht (11). In Düsseldorf wird dieser Unterricht, mit etwa drei zusätzlichen Wochenstunden, für rund 20% der Schüler in 15 Sprachen angeboten (12).

Schweden hat bereits während des ‚Gastarbeiterbooms‘ 1975 einen regulären muttersprachlichen Unterricht eingeführt. Er soll Schüler in ihrer persönlichen Entwicklung fördern und ihr Selbstbewusstsein stärken. Meist bieten ihn Schulen zusätzlich an, einige haben auch eigene Klassen eingerichtet. Insgesamt wird er in 90 Herkunftssprachen erteilt. Allerdings ist die praktische Umsetzung schwierig: Muttersprachlehrkräfte sind oft an mehreren Schulen tätig, selten fest angestellt und nur teilweise pädagogisch ausgebildet. Zudem hat der erneute Anstieg zugewanderter Schüler mancherorts zu Konflikten geführt (13). Also auch hier gibt es Kritikpunkte – dennoch könnten die schwedischen Erfahrungen für unser Land anregend sein.

Sabine Manning

Quellen:

  1. Adnan Softic: Mehr Balkan wagen. Die Zeit v. 15.10.2015
  2. Martin Klesmann: Zuerst wird Deutsch gepaukt. Berliner Zeitung v. 16.10.2016 [Link]
  3. #Eiken Bruhn: Jede Sprache ist es wert, gesprochen zu werden. Erziehung und Wissenschaft 06/2016
    #Martin Spiewak: Ein Kind, drei Sprachen. Die Zeit v. 19.11.2015
    #Mediendienst Integration: Mehrsprachigkeit und Deutschkenntnisse [Link]
    #Peter Mayr/ Brigitta Busch: Türkisch wurde zu lange schief angesehen. Der Standard v. 6.7.2014 [Link]
    #Astrid Viciano: Polyglott plaudern. Süddeutsche Zeitung v. 27.5.2016
  4. Was bildet ihr uns ein? Bildungsblog der jungen Generation (8.6.2015) [Link]
  5. Flüchtlinge willkommen heißen – Deutsch lernen und Herkunftssprachen erhalten (3.10.2015) [Link]
  6. Jeannette Goddar: Aufgabe in allen Fächern. Erziehung und Wissenschaft 01/2016
  7. #Fanny Jimenez: Die Schlausprecher. Die Welt v. 10.4.2016
    #Gudrun Janicke: Eine geistige Übung (Interview mit Harald Clahsen). Potsdamer Neueste Nachrichten v. 10.8.2015; neu: Interview mit Harald Clahsen v. 30.9.2016 – Videoclip auf BR.de [Link]
    #Reinhard Pohl: Kinderdolmetscher 2015 [Link]
  8. BAMF: Mehrsprachigkeit von Kindern [Link]
  9. #Goethe-Institut: Mehrsprachige Familien – Vermittler zwischen den Kulturen [Link]
    #Gesine Schwan: Das Gemeinwohl muss öffentlich erstritten werden. Berliner Zeitung v. 9.10.2015
  10. Sachsen: Schule und Ausbildung [Link]
  11. Jürgen Amendt: Berliner Nischen – Hamburger Mühen. Erziehung und Wissenschaft 12/2013
  12. Sven-André Dreyer: Schüler lernen die Sprache der Eltern. 30.5.2016 [Link]
  13. #Anna Lehmann: Allen ihre Sprache. Erziehung und Wissenschaft 12/2013
    #Immigration puts Swedish schools to the test. Straitstimes 27.4.2016 [Link]

Hinweis:

Dieser Beitrag wird unter dem Titel „Ist Mehrsprachigkeit im Kommen?“ in der Freitag Community diskutiert.

5 Gedanken zu “Mehrsprachig im Kommen

  1. Dieser Blickwinkel ist wichtig. Oft wird ja darüber geschrieben, dass es für Migranten (-Kinder) notwendig ist, möglichst rasch Deutsch zu lernen – um richtig anzukommen und um der Integration willen. Das stimmt auch.
    Gleichzeitig halte ich die Wertschätzung für Mehrsprachigkeit und Muttersprache(n) für bedeutsam. Gründe dafür zählt der Beitrag auf. Viele Links zum Vertiefen gibt es auch noch.
    Sprache ist/Sprachen sind ein großer Reichtum, unabhängig davon, ob es sich um „Weltsprachen“ handelt oder nicht.

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  2. Unter dem Titel „Ist Mehrsprachigkeit im Kommen?“ wird dieser Beitrag auch in der Freitag Community diskutiert. Wir zitieren hieraus einen informativen und anregenden Kommentar:

    G. Schröder (‚Beyond‘) 21.9.16 / 24.9.16

    Das Anliegen Ihres Textes kann ich als Logopädin nur unterstützen: „In Deutschland ist nach wie vor eine ausgeprägt ablehnende Haltung gegenüber dem Erwerb von z.B. Türkisch, Russisch oder Kroatisch zu beobachten, die sicherlich auch damit zusammenhängt, dass diese Sprachen nicht verstanden werden, das Englische hingegen sehr wohl. Dementsprechend werden die Fähigkeiten z.B. Türkisch-Deutsch sprechender Kinder, beide Sprache zu mischen, aufgrund mangelnden sprachlichen Verständnisses weniger gewertschätzt als die englisch-deutsch sprechender Kinder.
    http://www.dbl-ev.de/kommunikation-sprache-sprechen-stimme-schlucken/normale-entwicklung/mehrsprachiger-spracherwerb.html

    Aus sprachtherapeutischer Sicht wird es höchste Zeit, alle neben dem Deutschen als Zweitsprache erworbenen Sprachen als gleichwertig zu betrachten. Die Tendenz, Englisch, Französisch und Spanisch als willkommene, zusätzliche (der Globalisierung nützliche) Kompetenz wahrzunehmen, Türkisch und Russisch bspw. hingegen aber als integrationshinderlichen Makel, entbehrt inhaltlich jeder Grundlage.
    Denn:
    Demographisch betrachtet ist Mehrsprachigkeit keine Ausnahme sondern Normalität … aus sprachwissenschaftlicher Perspektive (ist) Einsprachigkeit eigentlich eine Fiktion.“ Denn zur Mehrsprachigkeit zählt dann auch die Beherrschung von Dialekten, unterschiedlichen Sprachstilen und Fachsprachen, in der sich die „grundlegenden Fähigkeiten des menschlichen Gehirns, mit mehr als einer Sprache umzugehen“ widerspiegelt (vgl. Tracy 2007).

    Kinder, die bis zum Zeitpunkt des Erwerbs des Deutschen eine normale sprachliche Entwicklung in ihrer Muttersprache (z.B. Türkisch oder Russisch) durchlaufen haben, haben in der Regel keine Probleme mit dem Zweitsprachenerwerb.
    Eine zufriedenstellende zweisprachige Entwicklung wird gefördert durch emotional positiv besetzte Sprachenkontakte, durch eine orientierende Familienerziehung, durch eine unterstützende Schulbildung und durch eine gesellschaftliche Wertschätzung der weniger häufig gesprochenen Sprachen.“ (Reich & Roth 2002) „Mehrsprachigkeit stellt in der Regel kein Problem dar, sondern wirkt sich eher unterstützend auf die kognitive Entwicklung der Kinder aus. Daher sollte der Erwerb mehrerer Sprachen auf jeden Fall unterstützt werden.

    Auf der verlinkten site des Deutschen Bundesverbandes Logopädie finden Sie diesbezüglich weiterführende Informationen bzw. Materialien:
    1. zur physiologischen Sprachentwicklung, verfügbar in verschiedenen Einzelsprachen, bspw.:

    Klicke, um auf Sprachentwicklung_T%C3%BCrkisch_No1.pdf zuzugreifen

    2. Hinweise für Eltern:

    Klicke, um auf 0410_elterninfo_mehrsprachigkeit.pdf zuzugreifen

    Klicke, um auf 0113_dbl_faltblatt_mehrsprachigkeit.pdf zuzugreifen

    http://www.ifp.bayern.de/veroeffentlichungen/elternbriefe/index.php

    Eine informative und fachlich fundierte Zusammenfassung der Thematik auch hier:

    Klicke, um auf broschuere_12_Mehrsprachigkeit.pdf zuzugreifen

    Auch das Goethe Institut stellt sehr vielfältige und fundierte Informationen und Materialien zum Thema Mehrsprachigkeit zur Verfügung:
    http://www.goethe.de/ges/spa/prj/sog/fms/deindex.htm
    Aus der Zusammenfassung:
    „Mehrsprachigkeitsdidaktik im Rahmen des Projekts „Sprachen ohne Grenzen“
    Die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeitsdidaktik im Rahmen des Projekts Mehrsprachigkeit dient dazu, öffentlich bewusst und deutlich zu machen, dass Mehrsprachigkeit keine Last und Bürde, sondern im Gegenteil Grundlage für kompetente Bürgerinnen und Bürger ist, die an der gesellschaftspolitischen Entwicklung teilhaben und der Gesellschaft das Fundament für Prosperität und Entwicklung sind [Hervorhebung von mir, G. S.], die Verantwortlichen (Bildungspolitiker, Lehrplanmacher) und die Öffentlichkeit (Wissenschaftler anderer Gebiete als Sprachen, Arbeitgeber, Eltern) zu überzeugen, dass Mehrsprachigkeit in jeder Hinsicht besser und ertragreicher ist als Einsprachigkeit oder gemeinsames Radebrechen auf Englisch, Initiierung von Projekten wie zum Beispiel die Sprachvermittlung in immersiven Formen (wie bilingualer Sachfachunterricht oder deutschsprachiger Fachunterricht), Gesamtsprachencurricula, Lesetandems oder die Förderung der Selbststeuerung beim integrativen Fremdsprachenlernen und beim kulturellen Lernen im Zuge der Arbeit des Goethe-Instituts als eines der wichtigen Kompetenzzentren für die Didaktik und Methodik des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache im Rahmen eines Mehrsprachigkeitskonzeptes. Dabei geht es nicht nur, aber auch um die Festigung des Deutschen.
    (http://www.goethe.de/ges/spa/prj/sog/mud/de2984181.htm)

    Das Zentrum für Mehrsprachigkeit Köln stellt ebenfalls sinnvolle Projekte und Informationen bzw. Materialien zur Verfügung, z. B.
    http://www.zmi-koeln.de/index.php/materialien/Allgemeine-Dokumente/DemeK/DemeK-Konzeptgrundlagen.pdf/

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  3. Toller Beitrag, mir persönlich missfällt z.B sehr die weitverbreitete Argumentation „Die müssen erstmal Deutsch lernen“. Wobei das „Die“ ja schon sehr ausgrenzt. Im Bekanntenkreis kenne ich mehrere Kinder die zweisprachig aufwachsen, jedoch gehemmt sind in ihrer fremden Muttersprache zu sprechen, weil sie in der Schule gehänselt werden. Wäre wirklich schön das in den Schulen nachzubessern. Liebe Grüße Michi

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